Wir blicken auf unser Land wie durch ein zersplittertes Prisma. Vielleicht auch eine Art Kaleidoskop, das uns ein Zerrbild unserer eigenen fragmentierten Seele zurückspielt: irgendwie strahlend, irgendwie aber auch unwirklich.
Lange jedenfalls blicken wir nicht hinein. Wie beim Kaleidoskop ist das Bild dann doch nicht schön genug, die gewonnene Erkenntnis zu flach, um unsere Aufmerksamkeit zu halten. Die Seele unseres Volks, die wir doch gerade erst beginnen wiederzuentdecken: nichts als ein Gimmick.
Die Fragmentierung beginnt schon im Hier und Jetzt. Wir sind Kosmopoliten, sozialisiert in die globale Klasse der Heimatlosen. Wir sind Technokraten und Anationale, unsere Ideen speisen sich aus dem imperialen kulturellen Zentrum. Selbst unsere eigene Tradition sehen wir durch den Filter ihrer angelsächsischen Rezeption, Verfeinerung und Verzerrung. Das rückt sie noch ferner.
Während das Imperium verfällt und kulturell untragbar, unerträglich wird, wandert unser Blick zurück auf die eigene Kultur. Doch dieser Blick flackert: wo wir ein magnetisches Zentrum erwarten, sind die Kräfte gebrochen, entmagnetisiert durch Reibung an Tausenden Metallen. Die Seele ist aufgegangen — worin eigentlich?
Die deutsche Romantik und ihre Rezeption mögen einen Hinweis geben: Sie wird von vielen — je nach politischer Couleur — mal als proto-faschistisch, mal als proto-woke gesehen. Die einen erblicken in ihr eine Hitlerwegbereitende™ Blut-und-Boden-Ideologie, gipfelnd im esoterischen Wahn des Vitalismus, eines Steiner, der Kosmiker der 1920er-Jahre und schließlich in der vermeintlich antiprogressiven Metaphysik von Jünger, Heidegger und Konsorten. Die anderen sehen deutsches Denken seit Hegel, manche gar seit Kant und Goethe, als wissenschaftsfeindlichen Unfug, direkt verantwortlich für einen zivilisationsbrechenden Wahn, der — in kalter logischer Notwendigkeit — die Unterschiede zwischen Mann und Frau, zwischen wahr und falsch, zwischen rational und irrational ausradiert und den Subjektivismus zur Ersatzreligion erhebt.
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Wo ist unsere Heimat? Wo ist meine Heimat?
Viele von uns haben in den letzten Jahren die Flachheit, die Grausamkeit der Existenz im globalisierten kulturlosen Raum wahrgenommen. Und doch leben wir darin: Wir reisen, wir sprechen verschiedene Sprachen, wir ziehen um. Manche, wie ich, leben im Ausland. Und wie so viele vor mir, die aus Deutschland wegwollten, blicke auch ich auf meine Heimat mit Sorge, mit Verbundenheit, mit Sehnsucht, mit Abscheu.
Wir haben kein Dorf und keine Kleinstadt, nicht einmal eine Großstadt, die uns in der Erinnerung ein Idyll, einen kulturellen Gipfel bieten könnte — eine mögliche Form des guten Lebens, wie sie unsere Kultur, unser soziales Milieu hervorgebracht hat; ein Leben, das uns als Zuhause beflügelt. Dazu ist uns die logische Verquickung unserer Klasse mit dem zivilisatorischen und kulturellen Abhang zu bewusst, auf dem wir seit Jahrzehnten hinabschlittern in ein Tal, in dem die Sonne zunächst vor erhabenen Bergen ihren Untergang antritt, bevor sie uns gänzlich in der eiskalten Nacht zurücklässt: ohne Hoffnung auf Überleben, es sei denn, wir treten den schweren Weg über den Pass an, über dunkle Pfade taumelnd, unter hohem persönlichen Einsatz.
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Die Fragmentierung unserer kollektiven Seele hat tiefere Wurzeln.
Sie begann nicht erst mit der Globalisierung, auch wenn diese uns unserer Sprache und der letzten Reste unserer Verbundenheit mit unserem Erbe beraubt hat. Sie begann auch nicht 1968, obwohl wir hier wohl einen Wendepunkt entdecken können, der letztlich unsere kulturelle Konfusion besiegelt hat. Noch begann sie mit Hitler, auch wenn die Nazizeit und die anschließende Eingliederung in das angelsächsische Imperium eine Welle der kulturellen Zerstörung entfesselten, die nicht zuletzt die Natur- und traditionellen Geisteswissenschaften, vielleicht die letzten großen Blüten unserer Tradition, aufhoben, entkernten, aufsogen. Auch der Erste Weltkrieg mag nicht als Anfang vom Ende gelten, auch wenn er das Ende Preußens mit all seiner wirkmächtigen Ambivalenz nach sich zog. Mehr Beispiele ließen sich finden: man denke an die blutrünstige Reformation mit ihren Kriegen, ohne die unsere liberale Moderne völlig unverständlich bleiben muss.
Was als verbindendes Element bleibt, als letzte Zuflucht unseres manisch nach Halt suchenden geistigen Auges, ist erstaunlich wenig: Bismarck vielleicht; Goethe mit Sicherheit. Bach, noch Beethoven und Schubert. Eine vage Sehnsucht nach dem leuchtenden, liebenden, tiefblickenden Strang eines Bürgertums, von dem allzulange nur der konformistische, zynische, autoritäre Teil gesehen wurde. Doch zuviel ist verbrannt, wurde verbrannt — und der Versuch, durch Deductio-ab-Hitlero einen neuen Kanon zu etablieren, war zu billig. Brecht, Adorno, Böll… sind dann doch zuwenig; zumal wenn sie in den geschichtslosen Raum verbannt werden, eine durch die Nazis entstandene Falle, in der wir ironischerweise von jener Dialektik gefangen gehalten werden, die doch die Nazis überwinden wollte.
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Doch müssen wir keine wirre Dialektik bemühen, um zu sehen, dass die verschiedenen kulturellen Pole unserer Geschichte einander bedingen, aufeinander verweisen, sich ineinander tragen. Allein, die Dialektik ist kein Naturgesetz, wie überhaupt alles Historische nicht von Naturgesetzen gelenkt wird. Dies ist ein Missverständnis aus dem Zeitalter des Szientismus. Auch Oswald Spenglers an Goethe angelehnte „Morphologie“ ist vielleicht noch zu nah dran am von ihm selbst so bezeichneten Wissenschaftskult der „Tatsachenmenschen“ einer Zivilisation in Auflösung.
Geschichte basiert auf Geist: dem menschlichen Geist und seiner Entwicklung, eingebettet womöglich in einen höheren Geist, dessen Wesen wir nur dunkel durch einen Spiegel erblicken, wie Paulus meinte. Der Versuch, diese Dunkelheit mit philosophischen oder vermeintlich naturgesetzlichen Systemen zu beseitigen, erzeugt doch nur einen Fantasmus, der womöglich mehr verdunkelt als die Dunkelheit des Spiegels selbst. Anders gesagt, wir haben es in der Hand, was wir mit unserem Geist anstellen, wie wir ihn entwickeln, und wie wir uns vor den im Dunkeln verborgenen Kräften schützen, dem Hellen zugewandt — in all seiner liebenden Subtilität.
Liebend, subtil — so nähern wir uns unserem Erbe an, auch und gerade in diesen Zeiten, aus der globalisierten Wüste heraus. Ein seelisches Abtasten, Einfühlen, menschliches Verstehen. Auch ein Verlassen von kanonisierten Narrativen — hier hat die Postmoderne recht, auch wenn deren Jünger die Tragweite dieser epistemischen Bescheidenheit selbst nicht erkennen und scheinbar mehr in ihrem eigenen Narrativ festklemmen als jede Generation zuvor.
Doch wenn sich der Gegenstand unseres Blicks auflöst, „dekonstruiert“, dann hängt alles davon ab, was unsere Wahrnehmung zu erhellen vermag. Wir laufen Gefahr, das Dunkle in Paulus‘ Spiegel zu projizieren — oder auch ein Lügenlicht, gebrochen durch die schwärzesten Seiten unserer Seele. Wenn dagegen der liebende Blick einmal gelingt, zart und doch auch gelegentlich harsch, und wir dabeibleiben, auch wenn uns die Wirklichkeit hin- und herschüttelt und wir ihn immer wieder verloren glauben, so lässt sich unser Erbe erneuern, und mit ihm: wir selbst und alles Weitere.
Wunderbar! Danke für das Essay