Die großen Dinge lassen sich nicht niederpinnen, ohne dass sie sich wehren. Ihre Waffe ist die Verwandlung: Fängt man sie ein, scheinen sie plötzlich ganz anders, und die so auftretende Täuschung führt auf seelische Irrwege, lässt man sich von ihr blenden.
Dem kann man freilich entrinnen, indem man alsbald den Kontakt zum Großen, Weiten, Tiefen sucht — jener Wahrnehmung, die sich weder allein durch Sinneseindrücke speist noch durch abstraktes Denken. Nicht Kategorien, Vergleiche oder Ableitungen sind hier gefragt, noch Anschauungen und Visualisierungen, sondern der ungefilterte Eindruck des Kosmos, wie er sich der feinen Seelenhaut unmittelbar darstellt und unser Denken, Fühlen und Verstehen in Ordnung bringen kann.
Die Vorstellung von Freiheit gehört zu diesen großen Dingen. Sie muss für immer ohne Definition bleiben, oder aber jede Kraft verlieren, zur Schimäre werden. Indem wir auf eine Definition verzichten, verleihen wir ihr im Gegenteil das nötige Gewicht. Denn wer frei sein will, der muss zuallererst innere Energie erzeugen — gerade dort, wo seelische Knechtschaft herrscht, die übelste Form der Sklaverei. Nur diese innere Energie kann den Bann brechen und dem tiefsten Innern den Blick freigeben auf die äußere Dunkelheit, aber auch auf das einzig Schöne, Wahre und Gute.
Freiheit, das heißt nämlich immer auch geistige Unabhängigkeit von der erdrückenden Last des Sozialen, des Geziemlichen, der Moral von Platons „ungeheurer Bestie“ als lebendem Sinnbild der Gesellschaft: In unserem Normalzustand empfinden wir schlicht alles, was die Bestie ruhigstellt, als richtig und anständig; und alles, was sie provoziert und zu Gegenreaktionen herausfordert, als böse und verabscheuenswert. Nur die wenigsten kommen darüber hinaus.
Nun kommt erschwerend hinzu, dass der moralische Zwang einer Gesellschaft zu einer gegebenen Zeit bald mehr, bald minder ausgeprägt ist; und dass die konkrete Form mal sinnvoller, mal brutaler, mal erniedrigender, mal erhöhender sich darstellt. Dennoch muss selbst unter Umständen, in denen eine erhöhende Moral gesellschaftlich wirksam ist, jede moralische Norm früher oder später zur Sünde führen: denn von jeder Regel gibt es viele Ausnahmen. Der gallespeiende Moralist ist nicht umsonst ein zu allen Zeiten verachteter Charakter unter leuchtenden Menschen.
Nein, nur die Entwicklung unserer seelischen Wahrnehmung kann uns dem Ideal näherbringen, moralisch autonom zu werden.
Wenn freilich die herrschende Moral in Summe nicht erhöhend, sondern erniedrigend wirkt, sie also zu so etwas wie einer Anleitung zum Absinken auf die Stufe der Tiere degeneriert, dann wandelt sich das Streben nach innerer Freiheit von bloßer esoterischer Befriedigung zum spirituellen Überlebenskampf. Dies umso dringlicher, als die idiotisch-schäumenden Moralisten unter diesen Bedingungen nicht nur dem Einzelnen das Leben zur Hölle machen, sondern gewissermaßen als dunkle Volonté Générale, als toxische Zeitgeister, ihre kollektiven Knüppel schwingen.
Nun könnte man meinen, dass in dieser Situation moralische Autonomie angesichts solcher Eskapaden leicht zu erreichen sei: Wer mag sowas schon? Doch das ist ein großer Fehler, den besonders die gerne machen, die am sklavischsten am Zeitgeist kleben und die selbst gerne mal den Knüppel zur Hand nehmen. Die Amoralität des „sozial Verträglichen“, von Platons „ungeheurer Bestie“, muss den meisten für immer verborgen bleiben. Aus purem tierischen Instinkt werden sie stets auf die Knüppler hören, wenn sie sich diesen nicht schon angeschlossen haben, denn nur so, meinen sie unbewusst, könne die Herde zusammengehalten werden.
Freiheit beginnt im Geiste dort, wo die gesellschaftliche Moral, vom Zeitgeist befeuert, die Sphäre des Naturgesetzes verlässt, wo also die ungeheure Bestie nicht mehr allein zu entscheiden hat, was falsch und richtig ist.
Doch das ist natürlich nicht die ganze Wahrheit: Die großen Dinge lassen sich nicht niederpinnen, ohne dass sie sich wehren.